Die Anfänge
Der Begriff der Textilkunst kam auf mit den Biennalen von Lausanne seit den 60-er und 70-er Jahre. Diese trugen zwar den Titel Biennale der Tapisserie, wurden aber von Zeitgenossen als Textilkunstveranstaltungen wahrgenommen.
Die ersten Pioniere waren amerikanische Künstlerinnen, die gegenüber ihren männlichen Kollegen nach eigenen Ausdrucksweisen suchten, ermutigt von Lehrern wie Josef und Anni Albers und anderen, die die Bauhaustradition des Experimentierens auf ihrer Flucht vor/aus dem Nazi-Reich mit in die Neue Welt genommen hatten. Es lohnt sich, in den Interviews mit Claire Zeisler und anderen nachzulesen, wie aus “Dilettantinnen” grosse Textilkünstlerinnen wurden (Fußnote 1)
In Osteuropa fand auch schon sehr früh in den 60-er eine Rückbesinnung auf die eigene textilen Traditionen statt. Dies geschah vor allem, aber nicht nur, in Polen, wo Magdalena Abakanowicz textile Skulpturen von solcher Kraft schuf, das sich die Frage, ob es sich um angewandte oder freie Kunst handelt erübrigte. Es ist bezeichnend und unbeabsichtigt, dass sich das kommunistische System der Kunstförderung positiv auf die Befreiung von der angewandten Kunst auswirkte: Während die Malerei und die Bildhauerei vom Regime als intellektuell aussagefähig und daher gefährlich angesehen und streng auf Inhalte überprüft wurden, ließ man dem Kunsthandwerk freie Hand! Viele Künstler tauchten deshalb im Kunsthandwerk unter und produzierten ihre verschlüsselten subversiven Inhalte unbemerkt weiter.
Auch in den skandinavischen Länder entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg aus der Volkskunst heraus eine bahnbrechende Textilkunst. Auch hier waren es vor allem Frauen, die sich an die freie Textilkunst wagten, ebenfalls in neue Gebiete vordrangen und Furore machten. Kennzeichnend für Skandinavien ist der bodenständige Bezug zum Gebrauch von Kunst: Es entwickelte sich hier sowohl das moderne Textildesign für die Textil- und Modeindustrie wie auch die freie Textilkunst, die stets auf die Architektur bezogen war.
Die japanische neuere Textilkunst kam in Lausanne etwas später in den 70-ern an. Die Verfeinerung und ihr starker Bezug zur Natur wirkten wie Atmen und eine meditative Beglückung, was jedoch auch in leere Dekoration umschlagen konnte.
Nach und nach verbreitete die moderne Textilkunst sich in Form von nationalen oder internationalen Biennalen über fast alle Länder Europas, allen voran Grossbritannien mit dessen grossartigem Ausbildungssystem für “Studiokünstler”, wie die Kunsthandwerker hier genannt wurden. Auch hatten die internationalen Mini-Textilkunst-Veranstaltungen, die in London angefangen wurden, einen grossen Einfluss auf die Entwicklung der Textilkunst und haben sie noch heute (z. B. die “miniartextil” von Como).
Frauenemanzipation und Textilkunst
Es ist eine Tatsache, dass Textilkunst weit überwiegend von Frauen gemacht wird. Bei den neuerdings überall aufkommenden Austellungen mit Textilkunst im Dunstkreis der Kunstszene, ist dies auch der Fall. Mir versicherten die Direktoren sowohl von “Kunst & Textil”, Oktober 2013 in Wolfsburg, als auch von “To open Eyes”,November 2013 in Bielefeld, dass Textilkunst nichts mit Frauenemanzipation zu tun habe! Sie sagten das wohl im Bemühen, diese Kunstart nicht noch weiter zu belasten. Sie irren, denn wenn man den großen Damen der Textilkunst zuhört (außer Claire Zeisler auch Lenore Tawney , Sheila Hicks und anderen) wollten sie alles anders machen als ihre männlichen Kollegen, etwas, das mit ihnen selbst und den Webtraditionen ihres Kontinents zu tun hatte! Die Tonband-Interviews des “Archives of American Art” (http://www.aaa.si.edu/) zeigen das ganz deutlich.
Rosemarie Trockel steht jetzt auf Platz 3 des Kunstkompasses und erzielt 6-stellige Summen für ihre Werke. Als Liebling der Kunstszene scheint sie die einzige “Textilkünstlerin ” zu sein, die sich im männlich beherrschten Kunstbetrieb einen Platz erkämpft hat. Viele jüngere Textilkünstler streben eine ähnliche Strategie der Unterwerfung unter die Prinzipen des Kunstbetriebes an; es wird ihnen auf den Kunsthochschulen und Akademien leider nahegelegt.
Die Zeit nach Lausanne in den 90-er Jahren
Nachdem die Lausanner Biennalen in eine Sackgasse geraten waren ( liebäugelte man doch damit eine Kunstbiennale zu werden, obwohl diese Rolle bereits von Venedig ausgefüllt wurde), entwickelte sich die Textilkunst im Stillen weiter, u.a. mit dem, was Michel Thomas (Fußnote 2) die “digitale Textilkunst” nannte, mit neuen Materialien und Techniken ( beschrieben von Marie O´Mahony und Sarah Braddock u. a.) und – dem genaue Gegenteil – mit der Rückkehr zur alten Tapisserie (Gründung European Tapestry Network).
Die Wiederbelebung der alte Jacquardtechnik mit digitalen Mitteln hat sehr viele interessante Werke hervorgebracht, von Künstlerinnen wie Lia Cook und Cynthia Schira aus den USA und von u.a. Lise Frølund und Grethe Sørensen aus Europa, die eigenständige Textilkunst darstellen im Gegensatz zu den Jacquard-Editionen von Gerhard Richter, wo Entwurf und Ausführung getrennt ausgeführt wurden.
Leider fiel die Textilkunstgemeinschaft in verschiedene Richtungen auseinander ( Patchwork/Quiltkunst, Filzkunst, diverse Webgruppen etc) die einzeln beachtliche Leistungen vollbrachten. Die Gründung des “Europäische Netzwerk für Textil” in 1991 entsprach dem Bemühen nicht nur Ost und West zusammenzubringen, sondern auch die Zersplitterung der an der textilen Kultur beteiligten, entgegenzuwirken.
Das neue Interesse an Textil seitens der Kunstszene
Die Kunstszene verfährt nach festen Regeln, die von einer kleine Clique von Insidern gemanagt wird. Diese Gralshüter der Kunst lassen sich die Deutungshohheit nicht nehmen. Diese Gruppe ist – wenn man den Kunstkompass (Fußnote 3) zugrunde legt- angelsächsisch-deutsch dominiert und trägt mit ihrem Preistreiben dazu bei, dass gewöhnliche Museen die Preise der Kunstauktionen nicht mehr bezahlen können. Für das grosse Publikum hat die Kunst fast schon die Rolle der Religion übernommen. So bleibt unsere Kultur leider in den Händen von Spekulanten statt von demokratisch bestimmten Personengruppen bestimmt zu werden, die das Wohl aller im Blick haben.
Diese Kunstszene hat nun Interesse an Textil angemeldet, schon seit einigen Jahren (Joanna Mattera, ehemalige Chefredakteurin von Fiberarts, sieht den Umkehrpunkt in 2009). Die Begründung ist immer gleich: In unseren virtuellen Welt gibt es einen Hunger nach Taktilem, als etwas Anfassbarem. In einigen Fällen wurde auch Seth Siegelaubs Ausstellung “The Stuff that Matters”, im Frühjahr 2012 in London (Fußnote 4), genannt. Siegelaub (1941 -2013 ) entstammte der Kunstszene, fing dann aber an, Textil sowie Literatur über Textil zu sammeln (Fußnote 5), er sah das textile Medium als eine Urform des menschlichen Lebens an.
Der finnische Kunstkritiker Hannu Castrén, der seine Liebe zu Textil erst vor kurzem entdeckte, redet von der Moderne Kunst als einer “gefrässigen Bestie”, die sich alles einverleibt .
Wenn es nicht nach oberflächlichem Interesse aussehen sollte, müssten in solchen Ausstellungen die Beschriftungen der Werke zumindest die Machart vermerken. Auch die in Jacquardgeweben umgesetzten Malereien von Gerhard Richter (Nr. 1 im Kunstkompass), waren in Wolfsburg nicht mit dem Atelier der Herstellung beschriftet (Flanders Tapestries in Wielsbeke, Belgien). Diese multiples werden im Internet zur den 10 schönsten Tapisserien der Welt gezählt (Fußnote 6)!
Was können Textilkünstler tun, um mehr Wissen über ihre Kunst zu verbreiten?
Eine wirksame Strategie könnte sein etwas mehr Gewicht auf Inhalte zu legen, wie es heute bereits in den anspruchsvolleren Textilkunstausstellungen der Fall ist, um auf diese Weise zu zeigen , was guteTextilkunst ist beziehungsweise sein kann.
Kollektiv gesehen sollten die Textilkünstler eines Landes sich darum bemühen ihre eigene Moderne Geschichte der Textilkunst in den wichtigen Museen ihres Landes zu zeigen, wie das jetzt in Italien geschieht. Nach “Off the Loom ” in Rom im Jahr 2000 ist dies die zweite grosse Übersichtsausstellung der grossen Namen italienischer Textilkunst.
Es wäre wunderbar, wenn weitere europäische Länder dem Beispiel Italiens folgen würden!
Beatrijs Sterk,
Hannover, den 17 August, 2014
Ehemalige Herausgeberin der Zeitschrift Textilforum und Generalsekretärin des Europäischen Netzwerks für Textil
Bemerkung: Dieser Artikel wurde für die Ausstellung OFF LOOM II geschrieben, die von 23 Januar, 2014 bis 12 April, 2015 im Museo Nazionale delle Arti e delle Tradizione Populari , Piazza Guglielmo Marconi 8/10- I-00144 Rome, stattfindet ; die Eröffnung ist am 22 January um 18:00 h
Fußnote 1: http://www.aaa.si.edu/collections/interviews/oral-history-interview-claire-zeisler-12076
Fußnote 2: Michel Thomas, Christine Mainguy u. Sophie Pommier, „L’art Textile“, Skira, Genf 1985, ISBN 2-605-00068-0
Fußnote 3: http://de.wikipedia.org/wiki/Kunstkompass
Fußnote 4 :http://www.ravenrow.org/exhibition/the_stuff_that_matters/
Fußnote 5: https://www.textile-forum-blog.org/2014/04/bibliographica-textilia-historiae/
Fußnote 6: http://www.bbc.com/culture/story/20140812-the-10-most-beautiful-tapestries