Die Triennale von Lodz ist zur Zeit die älteste Veranstaltung der Textilkunst in Europa und wahrscheinlich der ganzen Welt. Sie entstand 1972 als osteuropäisches Fenster der Textilkunst für alle diejenigen, denen der Besuch der Biennale von Lausanne verwehrt blieb. Die Veranstaltung war im ersten Jahr auf Polen beschränkt, wurde dann aber international zugänglich. Bis vor kurzem erfolgte die Auswahl der Arbeiten für diese wichtige Ausstellung – die bislang immer den Namen „Tapisserie“ im Titel trug – durch Berater für jedes Land. Es gab also keine öffentliche Ausschreibung. Dieses Vorgehen stand sehr in der Kritik, zumal diese Berater oft über längere Zeiträume dieselben Personen waren.
Jetzt wurde eine Wiederbelebung angestoßen, die dem erneuten Interesse an Textil seitens der freien Kunst Rechnung tragen sollte. Jetzt endlich gab es eine freie Ausschreibung und eine Kuratorin der jüngeren Generation, Marta Kowalewska. Sie legte die Betonung auf die Ikonographie und auf die neuen
Medien. Es sollten vor allem junge Künstler und auch solche, die nicht aus dem Bereich der Textilkunst stammen, angesprochen werden: „Young artists do not think that textiles are just a craft… they use the medium to discuss problems of our time“ (Junge Künstler glauben nicht, dass Textil nur Handwerk sei… Sie setzen das Medium ein, um sich mit Problemen unserer Zeit auseinander zu setzen) und „To place textile art in a contemporary context, you need to prompt artists to explore the hottest and most relevant topics of today“ (Um Textil in einen zeitgenössischen Rahmen zu bekommen, muss man die Künstler auffordern, die brennendsten und relevantesten Themen von heute anzupacken). Insgesamt sieht Marta Kowalewska die Textilkunst als ein wichtiges Genre der Kunst an („Textile Art an important genre of contemporary art“).
Als wichtiges Thema wurde der Begriff „Breaching Borders“ gewählt, der in sieben weitere Themenbereiche aufgefächert wurde: u.a. Migration und kulturelle Identität – körperliche Identität und Sexualität – Ursprünge (Origins) – Gedächtnis (Memory) – Psyche (Psyche) – Dialoge (Dialogues), immer in Zusammenhang mit dem Überschreiten von Grenzen in diesen Bereichen! Diese Strukturierung wirkte sehr gut. Sie machte die Ausstellung übersichtlicher und setzte den Fokus auf die Wertigkeit der jeweiligen Arbeit. Auch neue Technologien sowie eine Wiederbelebung des Arbeitens mit der Hand (revival of craftsmanship) waren angestrebt. Trotzdem fehlten in diesem Bereich wichtige Techniken, wie zum Beispiel der 3D-Druck, der im Design schon Kunsttendenzen gezeigt hat.
Wohl um die Einbeziehung der freien Kunst zu stärken, wurde eine Jury gewählt, deren einflussreichste Mitglieder aus der freien Kunst stammen, wie z. B. Anne Coxon/ Kuratorin an der Tate Modern, Michal Jachula von der Zacheta National Gallery of Art und Mizuki Takahashi vom Centre for Heritage, Arts and Textile/ Hongkong, die Kunstgeschichte an der Universität von Tokio studierte.
Das Ergebnis, obwohl von hoher Qualität, entsprach offensichtlich noch nicht ganz den hohen Erwartungen des Publikums. Einige der älteren Besucher sprachen davon „Alles schon mal gesehen zu haben“, dass also zu wenig Neues da war. Andere bemängelten eine gewisse Leere in der Ausstellung, im Vergleich zur letzten Ausstellung eine Leere, die nicht nur dadurch entstanden war, dass jetzt großzügiger gehängt worden war. Das Ergebnis war wohl etwas weniger reichhaltig ausgefallen als z. B. bei der Triennale 2017. Wie konnte das passieren, was war die Ursache?
Zunächst war die Zeit, die zur Verfügung gestanden hatte, sehr kurz gewesen. Erst vor gut einem Jahr wurden die neuen Bedingungen bekannt gegeben. Auch wenn diese Nachricht sich via der sozialen Netzwerke schnell verbreiten ließ, erforderte das anspruchsvolle Thema der „Breaching Borders“ doch eine gewisse Zeit der Auseinandersetzung und konnte eventuell nicht so schnell verwirklicht werden.
Eine weitere Ursache für das nicht ganz befriedigende Ergebnis lag und liegt sicher auch in der Tatsache, dass vor allem bekannte Künstler lieber eingeladen werden und selbst eher selten Arbeiten einreichen. Ich fragte einige Künstler danach. Sie gestanden, keine Abeiten eingereicht zu haben.
Einige Künstler hatten Arbeiten eingereicht, die bereits in anderen wichtigen Ausstellungen zu sehen waren (u.a. Arbeiten von Kristina Daukintyte Aas und Sarah Perret), was man besser vermieden hätte, denn es tut dem guten Ruf der Internationalen Tapisserie Triennale von Lodz Abbruch.
Ein weiterer Grund schien mir die Ausrichtung auf junge Künstler zu sein, die als Anfänger vielleicht mit frischen Ideen aber nicht gleich mit Meisterwerken aufwarten. Auch war hier die geographische Beteiligung sehr ungleich. Offensichtlich war die Neugestaltung der Triennale in allen polnischen Ausbildungsstätten bekannt, was nicht in anderen Länder der Fall zu sein schien. Von den 57 Teilnehmern stammten 22 aus Polen und schienen eher jung. Aus den anderen Ländern waren jeweils nur vereinzelte Teilnehmer zu verzeichnen: 5 aus Frankreich, je 3 aus den USA, Dänemark, Deutschland und Israel, sowie je 2 aus Japan, Finnland und Kanada. Aus allen übrigen Ländern kam jeweils nur ein Teilnehmer! Es kann nicht sein, dass nur Polen gute junge Textilkünstler aufweist!
Noch einen Grund für die Ungleichheit der Ergebnisse mag an der auf „Freie Kunst“ spezialisierten Jury liegen. Natürlich sind diese Leute über das, was in der Kunst passiert, gut informiert. Wenn es aber um Textilkunst geht, reicht ihr Wissen oft nicht aus. Damals bei der Ausstellung “Entangled – Threads and Making“ in Margate/ UK war die Stimmung „Wir entdecken die Textile Welt neu“, während Textilkunstexperten wie zum Beispiel Lesley Millar oder Pennina Barnett, die sich schon ein Leben lang mit der Textilkunst beschäftigen, gar nicht gefragt worden waren. Diese fast unbewußte Arroganz seitens der Kunstkuratoren ist typisch für das Unterschätzen der Textilkunst, wo doch oft spezielles Wissen oder Erfahrung gebraucht wird.
In diesem Punkt differiert meine Meinung über die notwendige Erneuerung der Textilkunst von der der Kuratorin. Wir sind uns einig über den Einsatz neuer Technologien und bei der Neubewertung von Handwerk. Lediglich in der veränderten Ikonographie hin zu bedeutenderen Themen sehe ich keine Lösung. Das hatten wir doch alles schon damals Ende der 80er Jahre, als Gerhard Knodel (damals Professor am Cranbrook) in der Jury von Lausanne saß. Es wurden ach so wichtige Statements geschrieben, die oft wichtiger schienen als die Arbeit selbst. Es sollte die Textilkunst nicht mehr nur von Textil handeln, sondern ein Thema aufweisen, möglichst ein gesellschaftlich relevantes! Diese Richtung stellte damals eine Art Erneuerung der Lausanner Biennale dar, was auch keine längere Laufzeit für diese Biennale brachte! Und das wäre schade, weil wir eine erneuerte Triennale von Lodz dringend gebrauchen können, aber mit etwas mehr Eigenständigkeit gegenüber der freien Kunst, die Eigenheiten und speziellen Qualitäten der Textilkunst im Auge behaltend.
Was ist das Spezielle an der Textilkunst gegenüber der sogenannten “Freien Kunst”?
Ich habe mir die einzelnen Arbeiten im Katalog daraufhin noch einmal angesehen und komme auf etwa zehn Arbeiten, die zum Bereich freie Kunst gehören. Dazu zähle ich auch den 3. Preis: Die Arbeit “3eme Age (le retour d´Ulysse)“ von Aurélia Jaubert, die aus auf Flohmärkten gefundenen Stickereien besteht, die wie ein Patchwork zusammengesetzt wurden. Oder die Arbeit “Totem” von Judy Hooymeyer, die einen Stapel alte Wolldecken zeigt. Erst nach Lesen des Begleittextes wird man darüber informiert, dass aus ihren Familien entfernte Inuit-Kinder thematisiert werden, die sogenannte verlorene Generation. In beiden Fällen handelt es sich um Arbeiten, die nur zufällig etwas mit Textil zu tun haben und für die Textilkunst keine Bereicherung darstellen.
Interessant ist auch eine grosse Gobelinarbeit von Eva Nielsen mit dem Titel „Lucite“, die im Atelier Patrick Guillot gewebt wurde (und die der Cité Internationale de la Tapisserie gehört). Seit Lausanne den Weg frei machte für das Prinzip „Entwurf und Ausführung in einer Hand“ waren solche Arbeiten nicht mehr in Textilkunst-Ausstellungen zu sehen. Aber da die freie Kunst andauernd ausführen lässt, kommt auch diese geteilte Arbeitsweise wieder vor.
Man sollte die Eigenart der Textilkunst doch etwas mehr würdigen! Ich sehe das erneute Interesse an Textil seitens der freien Kunst als ein Zurück zu anfassbaren, haptischen Qualitäten der Textilkunst. Die Kunst braucht das Textile als Impuls!
Viele sehen speziell in der Textilkunst einen Gegenpol zur Entwicklung in der Welt (“many see textile art as an antidote to the direction in which the world is heading“, Marta Kowalewska). Und Ann Coxon, die gerade die Ausstellung von Anni Albers in ihrem Museum ausgerichtet hatte, spricht davon, die Aufmerksamkeit zurück zu führen zu altehrwürdigen Arbeitsweisen (“bring the attention back to time honoured ways“). Einer der beiden ersten Preise – die der wahrscheinlich ältesten Teilnehmerin der Triennale – macht deutlich, dass die Textilkunst auch durch Intensität und Schönheit überzeugen kann und nicht nur durch gesellschaftlich relevante Themen.
Beatrijs Sterk