Wiederentdeckte Weberinnen
Else Mögelin und Johanna Schütz-Wolff
Letzten April wurde ich von Freunden an der Polnischen Kunstakademie in Stettin zu einer Ausstellung der Bauhaus-Weberin Else Mögelin eingeladen, deren Arbeiten seit 30 Jahren nicht mehr gezeigt wurden. Durch zwei Ausstellungen in diesem Jahr gibt es nun erneutes öffentliches Interesse an ihrer Arbeit: Die erste war „Ich wollte gegen alle Hindernisse weben“ vom 2.12.2023 bis 3.3.2024 im Brandenburgischen Museum für Moderne Kunst in Deutschland und eine noch ausführlichere Ausstellung „Else Mögelin – Bauhaus und Spiritualität in Pommern“ vom 11.4. bis 9.6.2024 in Stettin, Polen. Von 1927-1942 leitete sie die Textilwerkstatt der Städtischen Handwerks- und Kunstgewerbeschule in Stettin, die eng mit dem Städtischen Museum unter der Leitung von Walter Riezler zusammenarbeitete. Obwohl ich seit Beginn unserer Zeitschrift Textile Forum (zuerst auf Deutsch und seit 1993 auf Englisch) über Textilkunst geschrieben und Else Mögelin Ende der 70er Jahre persönlich kennengelernt habe, war ich mir der Bedeutung ihrer Arbeit nicht bewusst!
Die gleiche Überraschung darüber, dass eine talentierte Webkünstlerin von der Geschichte fast übersehen werden konnte, hatte ich bereits beim Besuch der Ausstellung über die Weberin Johann Schütz-Wolff im Grassi-Museum für Angewandte Kunst vom 21.5. bis 20.11.2015 erlebt. Sie unterrichtete Weberei an der Burg Giebichenstein in Halle. Diese Kunstschule galt, zusammen mit dem Bauhaus, als zwei der besten Bildungseinrichtungen seiner Zeit. Das Dessauer Bauhaus legte Wert auf eine Vereinigung von Kunsthandwerk in Architektur und Industrie, während Burg Giebichenstein einer Integration von Handwerk und Kunst im Sinne des Deutschen Werkbundes (Form folgt Funktion) einen größeren Stellenwert einräumte. Das Bauhaus wurde aufgelöst, weil es den nationalsozialistischen Machthabern als zu fortschrittlich erschien. Die Burg Giebichenstein existierte weiterhin, wurde jedoch stark eingeschränkt und geriet nach und nach in Vergessenheit.
Wie konnte es passieren, dass Anni Albers und Gunta Stölzl immer dann erwähnt wurden, wenn Textilien am Bauhaus breit diskutiert wurden? Es gab im Nationalsozialismus ein breites Spektrum textiler Karrieren/Schicksale, von der Ermordung wie bei der (jüdischen) Bauhausweberin Otti Berger (Auschwitz 1944) bis zur Auswanderung in die USA (Anni Albers) oder in die Schweiz (Gunta Stölzl). Die Tatsache, dass diese Weberinnen ihr Land verlassen mussten, war für ihre Arbeit von Vorteil, da sie weiterhin fortschrittlich arbeiten konnten. Vor allem Anni und ihr Mann Joseph Albers setzten ihre Bauhaus-Ideen am Black Mountain College fort und unterrichteten so jüngere Textilkünstler wie zum Beispiel Sheila Hicks und andere.
Wer während der NS-Zeit in Deutschland blieb, musste erleben, dass seine Werke als „entartet“ aus wichtigen Museen entfernt wurden. Johanna Schütz-Wolff hatte 13 ihrer eigenen Wandteppiche vernichtet, weil ihr Mann aufgrund seiner Veröffentlichungen bereits in den Fokus des Regimes geraten war. Sie verlor ihre Anstellung in der Textilwerkstatt Burg Giebichenstein und erhielt während des Krieges kein Webmaterial. Auch Else Mögelins Wandteppiche wurden als „entartet“ aus Museumssammlungen entnommen. Sie überlebte als Weberin, weil sie in Stettin über ein Netzwerk lokaler Unterstützer verfügte, das ihr half, zumindest einige Aufträge vom Regime sowie Webarbeiten für Kirchen zu erhalten.
Ich hatte bereits früher eine andere Weberin dieser Zeit, Alen Müller-Helwig (1901 – 1993), getroffen, die in den 20er Jahren ebenfalls einige abstrakte Arbeiten gewebt hatte. Sie wandte sich voll und ganz der Weberei von Naturmotiven nach Entwürfen des vom Regime akzeptierten Malers Alfred Mahlau zu. Ihre Werkstatt hatte überhaupt keine Probleme. Sie erhielt rund 70 Aufträge für öffentliche Gebäude und war auch für die Verteilung der Webmaterialien zuständig. Auf die Frage, wie sie darüber dachte, dass ihre Kollegin kein Material erhalten konnte, antwortete sie, dass es schrecklich sei (aber unvermeidlich, wie es schien). Meine Schlussfolgerung ist, dass das NS-Regime die gesamte moderne Entwicklung der Textilkunst gestoppt hat, nicht nur zur Zeit seiner Herrschaft, sondern auch später. Es scheint mir, dass die Textilkunst nicht den Ruhm der amerikanischen, polnischen und japanischen Textilkünstler erreichte, die auf den Biennalen von Lausanne gezeigt wurden. Einige wenige deutsche Textilkünstler, die mir aus der Zeit von Lausanne in den Sinn kommen, sind Sofie Dawo und die in Rumänien geborene Ritzi Jacobi. Rosemarie Trockel, die sich nicht als Textilkünstlerin identifizierte und ihre Arbeiten nie in Lausanne gezeigt hat, wird oft als deutsche Textilkünstlerin bezeichnet, weil sie Konzeptkunst mit Strickmaschinen schuf.
Die beiden Webkünstlerinnen Else Mögelin und Johanna Schütz-Wolff, die nun wieder im Fokus der Öffentlichkeit stehen, waren beide Bildweberinnen, die Kette und Schuss, sowie Webstrukturen und verschiedene Materialien einsetzten. Im Gegensatz zu den Gobelins mit vollständig bedeckter Kette wurde diese Webart Halbgobelin genannt. Die französische Gobelinweberei galt als „der Bastard der Malerei“ (wie Johanna Schütz-Wolff sie nannte), während sich diese Webkünstlerinnen neuer Stilmittel bedienten, indem sie die Kette öffneten und die sich kreuzenden Fäden sichtbar machten, um die Kunst des Webens zu zeigen. Beide Künstlerinnen benutzten auch nicht immer einen Karton als Vorlage, sondern gingen von einer kleinen Skizze oder von Markierungen auf der Kette aus, zumindest wenn sie selbst webten (Else Mögelin ließ auch andere Weberinnen für sich arbeiten). Materialtreue und Authentizität wurden sowohl vom Dessauer Bauhaus als auch von der Burg Giebichenstein Schule für Kunst und Design in Halle propagiert. Dieses Prinzip, dass Künstler ihre eigenen Werke weben, die verwendeten Materialien treu und authentisch sind und die Kraft des Experimentierens und des abstrakten Designs nutzen, gilt als Beginn des Webens als eigenständige Kunstform. Dies geschah Anfang der 1960er Jahre, beginnend mit den polnischen Webkünstlerinnen auf den Biennalen von Lausanne. Bereits in den 1920er Jahren können wir beobachten, wie diese Ideen aufkamen und Else Mögelin und Johanna Schütz-Wolff zu wichtigen Vorreitern der beginnenden Textilkunst als eigenständiger Kunstform (im Gegensatz zur angewandten Kunst) machten.
Das Leben dieser beiden ausdrucksstarken Webkünstlerinnen:
Else Mögelin (1887-1982) stammte mütterlicherseits aus einer niederländischen Textilfabrikantenfamilie, ihr Vater war Gymnasiallehrer. Sie studierte 1907 Design an der Königlichen Kunstschule Berlin und arbeitete als Designlehrerin. Sie studierte bei dem Textildesigner Alfred Mohrbutter an der Schule für Kunst und Design und belegte einen vom Deutschen Werkbund mitorganisierten Kurs für Dekorateure an der Reimann-Schule. Seit 2017 nahm sie an Ausstellungen teil.
1919 nahm sie an der bedeutenden Kunstausstellung Berlin teil und begann den Vorkurs von Johannes Itten und Paul Klee. Ein Jahr lang arbeitete sie in der Metallwerkstatt von Naum Slutzki. 1920 in der Töpferwerkstatt von Gerhard Marcks und Max Krehan in Dornburg, der einzigen Außenstelle des Bauhauses. Paul Klee schien sie in Richtung Textilien geführt zu haben. Ab dem 21. April 1920? arbeitete sie in der Textilabteilung unter der Leitung von Helene Börner und George Muche, wo sie 1923 ihre Kunstausbildung abschloss.
1923 trat sie der fortschrittlichen Handwerkskolonie Gildenhall bei Neu-Ruppin bei und übernahm dort die Textilwerkstatt. Ab 1926 leitete sie diese Werkstatt gemeinsam mit dem Webmeister Otto Patkul Schirren. Sie arbeitete für die berühmte Grassi-Messe im Leipziger Museum für Angewandte Kunst und für Walter Riezler, Direktor des Städtischen Museums Stettin und Kurator des Deutschen Pavillons auf der Monza-Biennale 1925.
Im Jahr 927 wurde Else Mögelin Leiterin der Stettiner Kunst- und Handwerksschule und blieb als Beraterin für die Gildenhaller Weberei tätig.
1930 gab es mehrere Ausstellungen zum Thema Wandteppiche sowie zum Thema „Schule und Handwerk“, außerdem die erste Ausstellung im Stettiner Museum der fortschrittlichen Gruppe „Neupommern“ (u. a. mit Mies van der Rohe, Oskar Schlemmer). Später wird Else Mögelin die frühen 30er Jahre als ihre beste Zeit betrachten, in dieser Zeit lernte sie auch ihre Lebensgefährtin, die Weberin Jane Ganzert, kennen. Zusammen mit ihr betrieb sie eine private Werkstatt (neben der Schulweberei) und arbeitete für Kirchen in Pommern. 1932 veranstaltete das Stadtmuseum Stettin die Ausstellung „Wandteppiche und Textilien“, die Else Mögelin und ihren Schülern gewidmet ist.
1933, mit dem Aufkommen des Nazi-Regimes, wurde die Avantgarde heftig kritisiert, das Bauhaus wurde aufgelöst und das gesamte Bildungssystem neu organisiert. Mögelins Werke wurden als „entartet“ aus Museumssammlungen genommen, doch dank ihrer Freunde und Kollegen gelang es ihr, in der lokalen Kunstszene zu funktionieren. Sie nahm an der Ausstellung „Pommersche Künstler von heute“ im Jahr 1934 im Städtischen Museum Stettin teil, sowie an der überregionalen Ausstellung „Weberei und Keramik heute“ im Jahr 1935.
Dank ihrer guten Kontakte bekam sie sogar einige Aufträge für öffentliche Gebäude in Stettin.
1943 brannte die Stettiner Schulweberei nieder, Mögelin verlor ihre Arbeit und 1945 zwang die russische Front Else Mögelin zur Flucht nach Hamburg, wo sie eine Anstellung als Dozentin für Textilien an der Staatlichen Kunstschule erhielt.
Auf der 9. Mailänder Triennale 1951 vertrat sie die Bundesrepublik Deutschland mit dem Wandteppich „Die Erde“ und erhielt eine Bronzemedaille. Nach ihrer Pensionierung im Jahr 1952 kreierte sie zahlreiche Textilien für verschiedene Kirchen. 1954 entstand der 7 Meter hohe Wandteppich „Christus“. Von 1955-1962 entwarf sie den „Bugenhagener Wandteppich“ für die Pommerania-Kapelle der Nikolaikirche in Kiel. Der Wandteppich „Menschen“ entstand gemeinsam mit der Bauhaus-Weberin Marie Thierfeldt für die Deutsche Botschaft in Stockholm.
Else Mögelin starb 1982 in Kiel.
Johanna Schütz-Wolff 1896-1965 wurde als Tochter des Architekten Gustav Wolff und seiner Frau Anna geboren. Sie und ihre Schwester Thekla wurden von ihren Eltern in Design, Spitzenherstellung und Weberei unterrichtet. Von 1915 bis 1918 besuchte Johanna die Kunstgewerbeschule Halle unter der Leitung von Paul Thiersch. 1918/19 studierte sie an der Münchner Kunstgewerbeschule. Ab Oktober 1920 übertrug ihr Thiersch die Leitung der neu eingerichteten Textilwerkstatt an der Halleschen Schule, ab 1921 war die Weberei in der Burg Giebichenstein untergebracht.
Johanna Wolff lernte den Theologen Paul Schütz kennen und heiratete ihn 1923, sie haben eine Tochter Anne. Im Jahr 1925 gab Johanna Schütz-Wolff ihre Lehrtätigkeit auf und zog mit ihrem Mann nach Schwabendorf bei Marburg, wo er eine Pfarrstelle innehatte. Sie webte Wandteppiche und nahm trotz der Abgeschiedenheit an vielen Ausstellungen teil und fiel durch ihre expressionistischen Wandteppiche auf.
Sie beteiligte sich an bedeutenden Ausstellungen wie der Ausstellung „Deutsche Kunst“ 1928 in Düsseldorf, wo sie für ihr Werk „Die Liegende“ eine Silbermedaille gewann. 1929 beteiligte sie sich an der Ausstellung „Moderne Bildwirkereien“ des Galerieleiters und Kunsthistorikers Ludwig Grote im Kunstverein Dessau mit dem Ziel, „die Wandteppiche aus ihrem Exil in der angewandten Kunst herauszuführen“. Die Ausstellung tourte durch neun deutsche Städte und zeigte Wandteppiche von Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Hans Arp, Wenzel Hablik, Anni Albers und Gunta Stölzl. Johanna Schütz-Wolff beeindruckte bei dieser Ausstellung mit ihrer Arbeit „Männlicher Akt“.
Die NS-Zeit war für die talentierte Weberin verhängnisvoll, eines ihrer Werke wurde vom Regime beschlagnahmt, das Buch ihres Mannes „Der Antichrist“ von der Gestapo indiziert und alle weiteren Exemplare vernichtet. Sie selbst erhielt keine Einladungen mehr zu Ausstellungen und ihre Bewerbungen für pädagogische Aktivitäten (u. a. an der Kunstgewerbeschule Halle) blieben erfolglos. Als ein Kontrollbesuch der Gestapo erwartet wurde, zerstörte sie selbst 13 ihrer Webarbeiten mit einer Schere.
In ihrer Arbeit wandte sie sich eher religiösen Themen zu und arbeitete für Kirchen. 1940 erhielt ihr Mann zwar eine hauptamtliche Pfarrstelle in Hamburg, wurde aber 1941 bis zum Kriegsende zum Militärdienst eingezogen. Nach 1945 wandte sich Johanna Schütz-Wolff wieder der Tapisserie zu, doch ab 1950 konzentrierte sie sich verstärkt auf Holzschnitte, ab 1960 auf Monotypien. Johanna Schütz-Wolff starb 1965.
Eine Reihe ihrer Wandteppiche befinden sich heute in öffentlichen Sammlungen wie den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, der Neuen Sammlung München, der Nationalgalerie Berlin, dem Städtischen Museum Schloß Rheydt in Mönchen Gladbach, dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt, dem Kunstmuseum Moritzburg in Halle, der Kunsthalle Mannheim und dem Grassimuseum Leipzig.