Die 57. Biennale Arte ist ein Fest für alle, die Kunst mit Textil lieben. Besucher, die diese Veranstaltung alle zwei Jahren besuchen, sagen daß es noch nie so viel Textil zu sehen gegeben hätte! Das gilt nicht nur für die Biennale selbst sondern auch für die Pavilions der Länder. Wer sich also noch nicht entschieden hat, es lohnt sich.
Die Biennale von Venedig findet seit 1895 statt und ist somit die älteste Kunstbiennale der Welt. Die Besucherzahlen sind jedoch kleiner als die der Documenta in Kassel (Venedig 500.000 zuletzt in 2015, Kassel dagegen 900.000 zuletzt in 2012). Die Biennale ist unterteilt in zwei Teile: Erstens die Ausstellung ‘Viva Arte Viva’ der Kuratorin Christine Macel mit 120 geladenen Künstlern, gezeigt in den Giardini (Gärten) sowie in den Arsenale Hallen; zweitens Ausstellungen in 97 nationalen Pavillons, die an oben genannten Ausstellungsorten, teilweise aber auch über die Stadt verteilt, zu sehen waren. Zudem gibt es laut Katalog weitere 23 Parallelveranstaltungen, ganz abgesehen von den vielen Ausstellungen in fast allen Museen und Galerien der Stadt!
Die Kuratorin Christine Macel (geboren 1969 in Paris) ist Chefkuratorin des Centre Pompidou. Es ist erst das vierte Mal, dass eine Frau über diese Ausstellung bestimmen konnte. ‘Viva Arte Viva’ ist als ‘passionierter Aufschrei für die Kunst und die Künstler’ gemeint (‘Viva Arte Viva’ is an exclamation, a passionate outcry for art and the state of the artist – lt pressebericht). Die Ausstellung ist gegliedert in neun thematische Pavillons, die eine neue Richtung andeuten: Pavillon der Künstler und Bücher; Pavillon der Freude und der Furcht, Pavilion der Gemeinschaft, Pavillon der Erde, Pavillon der Traditionen, Pavillon der Schamanen, der Dyonisische Pavillon, der Pavillon der Farben und der Pavillon der Zeit und Unendlichkeit (Pavilion of Artists and Books, Pavilion of Joys and Fears, Pavilion of the Common, Pavilion of the Earth, Pavilion of Traditions, Pavilion of Shamans, Dionysian Pavilion, Pavilion of Colours, Pavillion of Time and Infinity).
Die Wahl von Christine Macel bedeutet eine Abkehr von der kritisch politischen Linie der letzten Biennale und dessen Kurator Okwui Ehwezor. Trotzdem war einiges an politisch motivierter Kunst und Utopien aus den 60er bis 80er Jahren zu sehen. In manchen Fällen (wie bei Maria Lai und Geta Brătescu) wurden dieselben Künstler wie bei der Documenta, die gerade sehr politisch sein will, gezeigt.
Textile Arbeiten
Auf der vorigen Biennale hieß es, dass es noch nie so viele Frauen unter den Künstlern gegeben habe. Diesmal hieß es, dass es noch nie so viel Textil zu sehen gab! Weibliche Künstler gibt es ebenfalls viele mit einer starken Präsenz der großen alten Damen! ‘Why Old Women Have Replaced Young Men as the Art World´s Darlings’ titelte das Artsy Editorial vom 19. Juni 2017. Die Zeit der alten Männer, die bestimmen was Kunst sei, scheint abzulaufen.
Die Publikumslieblinge und Eyecatcher in den Arsenale Hallen sind aus textilem Material angefertigt: Da war zuerst die Großinstallation ‘A Sacred Place’ von Ernesto Neto, geboren 1964 in Brasilien, im Pavilion der Schamanen. Sie besteht aus verschiedenen Netzen (gehäkelt!), die ein riesiges Zelt bilden, wo die Besucher eintreten und zur Ruhe kommen konnten. Dann im Pavilion der Farben zeigte Sheila Hicks, Jahrgang 1934, ihre Installation ‘Escalade Beyond Chromatic Lands’ von 2016. Diese Arbeit ist sicher nicht das beste Kunstwerk, dass diese Künstlerin je erschaffen hat, aber es funktionierte wunderbar, um die dunkle Arsenale Halle in allen Farben des Regenbogens leuchten zu lassen! Bei den Arbeiten von Neto und Hicks machten die Besucher, die anders als die Kunstkritiker von dieser Biennale begeistert waren, die meisten Fotos!
Interaktive Arbeiten spielen eine große Rolle bei dieser Biennale. Im textilen Bereich fielen mir zwei davon auf: Das Ausbesserungsprojekt von Lee Mingwei, der Besucher bat, ihn etwas reparieren oder verschönern zu lassen, wobei er mit den Besuchern ins Gespräch kam. Gemeinschaftsstiftend und den Besucher auffordernd sich zu öffnen, gehörte diese Arbeit in den Gemeinschaftspavilion. Die Erklärungen der Kuratorin im Katalog waren dringend nötig, da die Zuordnung der Künstler zu dem entsprechenden Pavilion nicht immer so einleuchtet war wie in diesem Fall. Ebenfalls diesem Pavilion zugeordnet und zum Mitmachen gedacht ist die Arbeit von David Medalla aus Israel, genannt ‘A Stitch in Time’ von 1968(!), neu aufgelegt 2017 für diese Biennale. An einer hängenden Skulptur sollten Besucher persönliche Dinge und Notizen hinzufügen, was mit großer Begeisterung angenommen wurde!
Es gibt in der Ausstellung ‘Viva Arte Viva’ einiges an zweidimensionaler wandbezogener Kunst, die in jeder Textilkunstausstellung eine gute Figur gemacht hätte: zum Beispiel die von Berberteppichen inspirierte Applikationsarbeit von Teresa Lanceta, geboren in Spanien 1951, oder das riesige Wandbild in Halbrelief, hergestellt in Aplikationstechnik, genäht und bestickt von Abdoulye Konaté, geboren in Mali 1953, das an einem der besten Plätze in den Arsenale Hallen hing.
Wie sehr innovative Quilts wirkten die Arbeiten von Achraf Touloub, geboren 1968 in Marokko. Er gestaltet diese mit Ölfarbe, Grafit und Papier auf Nylon und Segeltuch.
Diese Künstler bewegen sich im Dunstkreis der freien Kunstszene und hatten entsprechende Lebensläufe mit Beteiligungen an Kunstbiennalen etc. vorzuweisen. Sonst wären sie hier wohl kaum vertreten, denn es gibt weiterhin das Tabu im Kunsthandwerk, wo es immer noch heißt, dass Leistungen erst nach 50 Jahren Anerkennung finden (wenn die Künstler bereits Tod oder sehr alt sind)!
Bemerkenswert ist, dass es auf dieser Biennale wenig Arbeiten im Bereich Mode & Bekleidung zu sehen gibt, ein Bereich, der doch schon sehr früh in der Kunst integriert wurde. Es lag bei den verschiedenen Installationen mit Alltagsgegenständen viel Keidung herum, aber richtige Kunstwerke gab es nur wenige. Zum Beispiel die Arbeit von Huguette Caland, geboren 1931, deren witzige Mannequins aus dem Jahr 1985 stammen. Die surrealen Figuren von Francis Upritchard, geboren 1976 in Neuseeland, scheinen aus einer anderen Welt zu stammen. Das Publikum fühlte sich angesprochen und blieb lange vor den einzelnen Figuren stehen, es ging offensichtlich eine emotionale Kraft von ihnen aus.
Von den Pavillions wurden die von Grossbritannien, den USA und Japan am meisten erwähnt. Mark Bradford hatte die Ehre, den Pavillion für die Vereinigten Staaten zu gestalten. Er tat das mit so viel Eifer, dass kaum Luft zum Atmen übrig blieb. Seine Ausstellung ‘Tomorrow is Another Day’ wirkt sehr textil, vor allem im Eingangsbereich, wo ein grosses Tuch von der Decke hängt, und im ersten Zimmer mit Skulpturen aus Alltagsmaterialien. Auch Phyllida Barlow für Grossbritannien hatte mit der Installation ‘Folly’ eine überbordende Vielfalt an Skulpturen geschaffen, die teils aus textilem Material teils aus Pappmaché über Draht gespannt hergestellt waren. Ihre Arbeiten hingen in diesem Frühjahr bei Turner Contemporary in der Ausstellung ‘Entangled: Threads and Making’. Auch sie benutzt gern Alltagsmaterialien und hinterfragt alte Ideen darüber, wie Skulpturen auszusehen haben. Sie ist Jahrgang 1944 und somit eine jener ‘Old Women’, die neuerdings ins Rampenlicht gerückt werden.
Der Pavilion von Japan war vom Künstler Takahiro Iwasaki unter dem Titel ‘Turned Upside Down, It´s a Forest’ (wenn man es auf den Kopf stellt, ist es ein Wald) gestaltet. Den Mittelpunkt bildete eine Installation aus alten Kleidern, wobei Besucher, die ihren Kopf durch ein Loch steckten, unversehens zum Teil der Installation werden.
Etwas abgelegen aber sehr beeindruckend hatte der Künstler Kai Kunang für den Pavilion von Singapur ein Schiff gestaltet, das einst der erste König von Makay in Südost-Asien steuerte. Das gigantische Gebilde aus Bambus machte einen leichten und poetischen Eindruck.
Viele weitere textile Arbeiten wären jetzt noch zu nennen, zum Beispiel im Pavilion der Künstler und Bücher die gehäkelte und gestrickte Arbeit ‘In Between the Lines 2.0’ von Katherine Nuñez und Issay Rodriguez, Jahrgang 1992 und 1991, geboren in den Philippinen. Oder die sehr großen Arbeiten aus Segeltuch, die aber trotzdem nicht sehr textil wirken, von Franz Erhard Walther, geboren 1939 in Deutschland .
Insgesamt ist die Biennale von Venedig ein Fest für das Auge. Es war eine Wohltat, so viel Textil so selbstverständlich in einer so wichtigen Kunstausstellung sehen zu können. Die sonst so düsteren Hallen seien diesmal viel heiterer, nicht zuletzt wegen der vielen Textilien, sagten Besucher, die bereits öfters da waren.
Beatrijs Sterk